09:00 – 12:00


Rationality: In einem einflussreichen Artikel der führenden Autismus-Forscher*innen Laurent Mottron und Michelle Dawson, den diese im Jahr 2011 in der Zeitschrift Nature veröffentlich hatten (siehe Mottron/Dawson: Changing Perceptions: The Power of Autism, 2011), wurde auf die Notwendigkeit eines Umdenkens, eines Kurswechsels im Hinblick auf unsere Betrachtungsweise des Phänomens Autismus hingewiesen. Anstatt sich auf die unterschiedliche, die „abweichende“ neurologische Struktur des „autistisches Geistes“ und dessen Defizite und Dysfunktionalität zu fokussieren, gelte es vielmehr, ihn unter dem Aspekt seiner Potenziale und seiner Qualitäten zu betrachten.

In diesem Sinne folgten die beiden Autor*innen dem Konzept der Neurodiversität, das seinerseits auf einen weiteren bekannten Artikel (von Harvey Bulme in der New York Times, 1998) zurückgeht. Im Kern umfasst es die Vorstellung, dass eine atypische, d.h. von der Norm abweichende, neurologische Entwicklung und Struktur einen normalen, kontinuierlich und recht häufig auftretenden Unterschied im Spektrum der natürlichen menschlichen Vielfalt darstellt – der, wie jede andere biologische Variation von/in Körperbau, Statur, Geschlecht und/oder Neigungen anerkannt und respektiert werden muss. Die Unterschiede selbst können im konkreten Fall in der Art und Weise auftreten, wie Informationen aufgenommen und verarbeitet und wie Sprache, Klänge, Bilder, Licht, Texturen, Geschmack, Bewegung und Emotionen wahrgenommen werden (Harmon, 2004).

Das Konzept der Neurodiversität verhalf demgemäß nicht nur zu einer dimensionalen Sichtweise, welche das Phänomen Autismus nunmehr unter den Vorzeichen eines (breiten) Spektrums betrachtet, sondern auch zu einer allgemeinen Anerkennung neurologischer Variation.


Es ist daher auch nicht zu übersehen, dass diesem Konzept – in all seinen Spielarten – auch ethische Implikationen innewohnen, die es sowohl im klinischen Alltag, aber auch im täglichen gesellschaftlichen Lebensvollzug zu beachten gilt. Als zentral angesehen werden können:

– ein Verständnis dafür, dass neurodiverse Menschen (nach Maßgabe ihrer individuellen Bedürfnisse) Unterstützung brauchen, die Behandlungen aber nicht auf einen (fiktiven) Normalzustand abzielen sollen

– von der Krankheits- zu einer Störungs-Nomenklatur zu wechseln

– die Erweiterung des Konzepts von Autonomie und des psychophysischen Wohlbefindens (auf der Basis der Anpassung an unterschiedliche Bedürfnisse und der Überprüfung dessen, was auf der Grundlage der vorliegenden neurologischen Entwicklung als „Erfolg“ im Sinne „sozialen Funktionierens“ zu werten ist)

– und infolgedessen eine Erweiterung der Kontrolle und der Wahlfreiheit, die neurodiverse Menschen im Hinblick auf Art, Zeitpunkt und Modalitäten der Hilfen/der Behandlungen haben sollen

– die Förderung von Chancengleichheit bei gleichzeitiger Beseitigung von Diskriminierung und Mobbing

– die Förderung der Teilhabe/Teilnahme neurodiverser und/oder behinderter Menschen am öffentlichen Leben

– die Sensibilisierung für die Unterschiede im individuellen Verhalten, Fühlen Denken .S. eines allgemeinen Klimas der Akzeptanz

– die Förderung sozialer und/oder politischer Veränderungen, um das familiäre, schulische, berufliche und soziale Umfeld für die Anwesenheit neurodiverser Menschen besser geeignet zu machen

– die Förderungen von Gelegenheiten, in denen sozialer Austausch und Diskussionen stattfinden können

– die Förderung positiver Modelle, auf denen neurodiverse Menschen ihre eigene Identität aufbauen, an denen sie sich orientieren können (siehe Morrice, 2006; Palfreman, 2009)





Ganz im Sinne dieser Absichten zielt das vorliegende 3. Modul darauf ab, hierfür einige (erste) Schritte zu setzen. Die Auseinandersetzung mit in dieser Hinsicht typischen lebensweltlichen Situationen (Routinen und Tätigkeiten) soll letztendlich das Handlungsrepertoire aller Beteiligten erweitern – sowohl jenes der Menschen mit ASS selbst, als auch jenes der Kursteilnehmer*innen.